Wo bleibt die Mobile-Learning-Revolution?

01. November 2019 - Alle Kategorien, Content, Mobile Learning, Zukunft des Lernens

Autor: Chris Hollweg

Wenn man den Überschriften vieler Artikel glauben will, dann revolutioniert Mobile Learning* schon mindestens seit 2007 das Lernen. Die zugehörigen Artikel sind leider oft enttäuschend. Gefühlt 70 % der euphorischen Autoren preisen an, man könne jetzt auch ein Lernquiz auf seinem Smartphone machen. Das ist gar nicht so neu und revolutionär finde ich es auch nicht.

Die Revolution bleibt aus

Ein Lernquiz kann nett und nützlich sein, aber für mich muss eine Revolution krachen, Mauern einreißen und ALLES verändern. Mir Günther Jauch als eine Art Che Guevara des Lernens vorzustellen, fällt schwer. Nach einem Quiz habe ich mich meistens gut unterhalten, mein Wissen unter Beweis gestellt und vielleicht noch etwas dazu gelernt. Soll das wirklich alles sein? Mobile Learning als unterhaltsame Nice-to-Have-Ergänzung meiner Lernprozesse?

Bei vielen Menschen sind nahezu alle Aspekte des Alltags mit ihrem Smartphone verknüpft. Sie lassen sich mit ihrer Lieblingsmusik wecken, lesen beim Frühstück Online-Nachrichten, überprüfen, ob der Bus zur Arbeit Verspätung hat, kommunizieren mit Freunden und Kollegen, bestellen Essen, buchen Reisen, navigieren ihr Auto, verabreden sich  u. v. m. Nur zum Lernen legen sie das Smartphone komplett zur Seite.  

Woran liegt das?

Eignen sich Smartphones etwa nicht zum Lernen? Mitnichten. Genauso wie viele Medien und Methoden ist Lernen mit dem Smartphone für verschiedene Ziele und Situationen gut oder weniger gut geeignet. Meines Erachtens gibt es fünf Ursachen für das Nichteintreten der Mobile-Learning-Revolution:

  1. Inhalte die für PCs, Laptops oder Tablets gemacht wurden, werden unverändert auf dem Smartphone angeboten.
  2. Der Methodenmix ist starr konzipiert. Man kann nur in bestimmten Phasen des Lernprozesses mobile Inhalte nutzen, anstatt situativ zu entscheiden.
  3. Gerade im Unternehmenskontext sind viele technische Hürden zu nehmen.
  4. Die Smartphone-Besonderheiten (24 x 7-Sofort-Verfügbarkeit, Orts- und Bewegungstracking, Personalisierung, Kamera und Sound) werden nicht berücksichtigt.
  5. Für ein Learning on Demand à la YouTube oder LinkedIn fehlt die Masse an Fachinhalten.

Was würde ich mir als Lerner wünschen?

In einer idealen Welt würde ich persönlich gerne selbst entscheiden, wo und wie ich lerne und auch, wenn möglich, wann ich lerne. Zum Beispiel würde ich am PC mit einem Lernprogramm beginnen und dasselbe Thema mobil fortsetzen wollen. Mein LMS würde erkennen, dass ich jetzt mein Smartphone benutze und mir die Fortsetzung mit einer Programmversion anbieten, die diesem Gerät gerecht wird: keine überfrachteten Bildschirme, keine verschachtelten Gliederungen, Interaktionen, die gut bedienbar sind und ansprechendes Design – ein Inhalt der speziell dafür gemacht ist, sich auf dem Smartphone gut anzufühlen. 

Es sollte bei der Kommunikation mit einer Lerngruppe, einem Tutor oder einem Trainer keine Rolle spielen, ob ich am PC oder mit meinem Smartphone in der Hotellobby sitze.  Es sollte auch keine Rolle spielen, ob es sich dabei um einen Chat oder ein Webinar handelt.

Ich könnte bei Präsenzveranstaltungen vor Ort sein oder auch online mitmachen. Wenn ich nur virtuell teilnähme, würden mir dabei Instruktionsphasen live auf das Handy übertragen werden. Fragen könnte ich an die Chatwand schreiben oder mich für einen zugeschalteten Wortbeitrag melden.  In Gruppenphasen würde ich mit einer Onlinegruppe arbeiten. Unsere Ergebnispräsentation könnte auf den Monitor im Seminarraum projiziert werden. Die Präsentationen der Vor-Ort-Gruppen würden mir auf mein Smartphone gesendet. Wäre mir eine Teilnahme an der Veranstaltung auch virtuell nicht möglich, dann könnte ich die Videoaufzeichnung nutzen. 

Ich würde mir außerdem wünschen, an der Auseinandersetzung der anderen mit dem Lerninhalt teilhaben zu können und ihre selbst produzierten Audios, Videos und Texte zu nutzen, mit ihnen darüber zu diskutieren und sie gemeinsam weiterzuentwickeln.

Und am Ende dieses Lernprozesses ließe ich mir auch einen Test auf dem Smartphone gefallen, selbst wenn er mich wieder mal an „Wer-wird-Millionär?“ erinnern würde.

Es ist keine Revolution, wenn man den Normalzustand erreicht

Mein Wunschszenario enthält nichts, was nicht heute schon realisierbar wäre. Das Problem ist, dass alles Zusatzaufwand und Zusatzkosten mit sich bringt.  Aber was ist die Alternative? Auf Mobile Learning verzichten? Weitere Lerninhalte, die per Knopfdruck für das Smartphone tauglich sein sollen, aber tatsächlich ein unbefriedigendes Lernerlebnis bieten? Weitere Mobile Learnings, für die es kein vernünftiges Nutzungsszenario gibt? Nein, wenn man mobiles Lernen erfolgreich gestalten will, muss man speziell dafür konzipieren und produzieren.

Aber es gibt auch positive Entwicklungen,  zum Beispiel hervorragende Sprachlernprogramme und pfiffige Lernkarteikartensysteme für Smartphones. Immer häufiger wird das Handy in Selbstlernphasen als Kommunikationsmittel mit der Lerngruppe oder dem Trainer eingesetzt. Ebenfalls im Kommen sind Lernvideos, die Teilnehmer selbst mit dem Smartphone produzieren. Ein Anfang.

Die Erwartungshaltung nicht nur junger Menschen ist, dass Lernen selbstverständlich auch über das Smartphone stattfinden kann. Davon sind wir weit entfernt. Würden wir diesen „Normalzustand“ erreichen, wäre das allerdings keine Revolution. Revolutionsproklamationen erzeugen nur Erwartungen, die man nicht erfüllen kann.  Also: Weniger Tonspur und mehr Aktion!

*Wenn ich hier über Mobile Learning schreibe, meine ich nicht Lernen auf Laptops oder Tablets, die natürlich auch "mobil" sind. Warum nicht? Weil Lernen mit diesen Geräten im Prinzip wie am Desktop-Rechner funktioniert, auch ähnlich unspontan.

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